Noch vor dem Morgengrauen weckt uns die Ungeduld, sodass wir eine der ersten sind, die heiße, dampfende Paos und Suppe serviert bekommen. Doch um nicht in den ärgsten Ansturm in der Metro zu gelangen, gedulden wir uns bis 9 Uhr, um erst dann mit Sack und Pack durch die Gepäckkontrolle uns ins Getümmel zu stürzen. Neben unseren Rucksäcken haben wir nun noch einen Schwung vegetarischer Nudelsuppen, Nüsse, Fruchtleder, Zitronen, Ingwer und Tee für die 5-tägige Zugfahrt geschultert. Nach einer Stunde, in der wir dreimal Umsteigen, erreichen wir den zentralen Hauptbahnhof, wo es nach Pass-, Gepäck-, Personen- sowie Ticketkontrolle endlich in die Transmongolische Eisenbahn geht.
Neben all den Hochgeschwindigkeitszügen sieht unser grüner Zug mit den Rußwolken über den einzelnen Waggons richtig romantisch aus.
Unser “Hardsleeper” Abteil befindet sich im Wagen 14, der fast am Ende des Zuges ist. Bis auf uns steigt zu unserer Verwunderung kein anderer Fahrgast mit in die vierer Kabine, gar noch nicht mal in den Waggon. Was für ein Luxus.
Pünktlich um 10.22 Uhr setzt sich der altmodisch anheimelnde Zug in Bewegung und rattert im gleichmäßigen Takt hinaus aus der Großstadt, entlang an Vororten,
durch kilometerlange Tunnel hinein in dünn besiedeltes Bergland.
Kurz vor der Grenze in Erlian legt sich wie zum Abschied oder doch eher zur Begrüßung ein weißer Mantel über die Landschaft. Umso erleichterter sind wir, als wir zum Spurwechsel nicht den warmen Zug verlassen brauchen.
Auch die Grenzbeamten kommen zu uns und inspizieren bei der Gelegenheit gleich das Abteil. Einige Stunden später weckt uns der Schaffner, denn nun reisen wir in die Mongolei ein. Wenig später geht es bereits weiter durch die schneebedeckte Steppe. Über uns scheinen die Funken der Kohleöfen einen Freudentanz mit den Sternen vorzuführen, bei dem wir durch das monotone Geschaukel des Wagens allmählich wieder in den Schlaf fallen. Zum Sonnenaufgang sind wir bereits wieder wach
und erfreuen uns am Anblick von Rehen, Pferden, Ponys, Rindern, Schafen, Ziegen und gar Kamelen. Hin und wieder tauchen Jurten auf, am Horizont zeichnen sich Hügel ab.
Innerhalb weniger Stunden hat sich die Außentemperatur von +10 Grad Celsius um 30 Grad auf – 20 abgekühlt.
An den von Ruß geschwärzten Fenstern bilden sich nun auch noch weihnachtliche Eisblumen,
im Bad gefriert das Wasser auf dem Boden. Auch unsere Haut kommentiert die eisige Kälte sogleich mit trockener, rauer, rissiger Haut.
Doch das hält uns nicht davon ab bei strahlendem Sonnenschein
gegen halb drei Uhr in Ulan Bator kurz hinaus zu hüpfen.
Zu Miriams Bedauern verwandelt sich der Zug nicht in einen fahrenden Basar wie vor knapp zwanzig Jahren, doch wie zum Trost spielt ein Blasorchester am Bahnsteig zur Begrüßung auf.
Russland begrüßt uns mit einer großen Delegation an Grenzbeamten, die mittels Wärmebildkamera zuerst unseren Gesundheitszustand ermitteln. Penibel werden von den Uniformierten mit Pelzmützen unsere Pässe, Visa und das Abteil begutachtet, bevor wir mit den Einreisestempeln willkommen geheißen werden.
Allzu offensichtlich freuen sich auch die mongolischen Herrschaften im Nachbarabteil über deren Einreise und nehmen es zum Anlass eines ausschweifenden Trinkgelages. Als um 6 Uhr in der Früh der Gesang zum Transistorradio sich in eine Kakophonie verwandelt klopft Miriam an dessen Tür, um um Nachsicht zu beten.
So gleich ist der Schaffner zur Stelle und öffnet die Kabine der munteren Gesellschaft mit seinem Generalschlüssel. Nur in Kürze soll erwähnt sein, dass der Zwischenfall ohne weiteres Zutun von uns eskalierte, nachdem das geräuschvolle Pärchen gleich zweimal in flagranti unterbrochen wurde. Die zur Unterstützung herbei geeilten Zubbegleiter sowie die per Funk gerufenen Polizisten, die den Betrunkenen zur Façon rufen sollten, waren uns doch schon zuviel Aufregung am frühen Morgen. Die Strecke führt uns den ganzen Vormittag 207 Kilometer entlang am Baikalsee, dessen gegenüberliegendes Ufer im Schneegestöber verschwindet. Wellen, des mit 1642 Meter tiefsten Sees, brechen sich an vereisten Steinen,
ab und an stehen Holzhäuser mit bunt bemalten Fensterrahmen und qualmenden Schornsteinen am Bahngleis.
Nach einem kurzen Halt in Krasnoyarsk
heißt es bereits Abschied nehmen vom über 25 Millionen jährigen und somit ältesten Süßwassersee der Erde.
Der andauernde Schneefall lässt die Birken vor Ehrfurcht und Last sich beugen, in den Astgabeln ruhen Schneebälle, bereit zur langen, weißen Schlacht des Winters. Dazwischen leuchten die feuerroten Beeren der Eberesche auf, denen die Kiefern im schweren, weißen Pelz leise zunicken. Zur Kaffeezeit fahren wir in Irkutsk ein. Zwischen den Hochhäusern der drittgrößten Stadt Russlands windet sich der Fluss Irkut entlang.
Bis auf das Bahnhofsgebäude bekommen wir nicht viel zu sehen,
doch schon alleine die schneidende Kälte nimmt uns den Atem.
Da ist es doch angenehmer mit einem Becher heissen Tees aus dem Fenster die Landschaft und Siedlungen zu betrachten. Autos sieht man außerhalb größerer Städte so gut wie gar nicht, scheinen nach den Fährten aber zu existieren.
Dächer, die an Fellmützen erinnern, trotzen dem Wetter während die kleinen Gewächshäuser im Vorgarten auf den Frühling warten. Ab und an blitzt das Zwiebeldach einer Kirche in der Ferne auf, seltener auch mal die Minarette einer Moschee. Als wäre dies allein nicht schon wie aus einem Märchen, verzaubert uns der Sonnenuntergang, der sich in den Kronen der Bäume verfängt.
In unserer dritten Nacht können wir endlich einmal ohne Grenzkontrollen und sonstigen Störungen durchschlafen und von den zauberhaften Holzhäusern in der Abenddämmerung mit ihren beleuchteten Fenstern träumen, die direkt aus einem Weihnachtsfilm zu kommen scheinen. Wie zur Entschädigung werden uns bedingt durch die Zeitzonen sogar noch zwei Stunden geschenkt. Dafür startet der nächste Morgen umso kühler, denn unser Waggonaufseher hat in der Nacht den Kohleofen ausgehen lassen, sodass wir gerade mal 8° C über dem Gefrierpunkt haben.
Während wir mit 5 Shirts- und Pulloverschichten unter den 2 Decken bibbern, zeigt sich was ein hart gesottener Mongole ist. Mit T-Shirt und Puschen bekleidet scheint das kühle Lüftchen ihnen nichts anzuhaben. Munter werden die morgendlichen Lockenwickler eingedreht und ein Schwätzchen auf dem Flur gehalten. Als Zugpersonal in der Transmongolischen Eisenbahn hat man es sicherlich nicht leicht. Getrennt von Familie und Heimat, mit den Launen der Reisenden sowie der Natur am Ringen und den ständigen Zeitverschiebungen ausgesetzt, scheint sich eine Mentalität zu entwickeln, die für den zahlenden Gast leicht irritierend ist. Wir kommen uns manchmal fast als störendes Anhängsel vor, wenn die Schaffner sich im Nachbarabteil zum Zocken, Qualmen und gemeinsamen Kochen treffen.
Bei Letzterem laufen sie regelrecht zur Höchstform an, wenn selbst Wonton im 3,5 qm kleinen Abteil ausgerollt und gefüllt werden. Schon morgens werden Pilze eingeweicht, Chinakohl geschnippelt und Reis über dem Kohleofen aufgesetzt. Das ursprünglich als Waschraum konzipierte Abteil dient dabei als Vorratskammer.
Viel authentischer kann es doch gar nicht sein.
Bis wir Mariinsk erreichen ist es auf jeden Fall wieder mollig warm und wir wagen uns für wenige Minuten in den Dauerfrost hinaus, um etwas frische Luft zu schnappen
und bei der Gelegenheit das russische Kioskangebot zu begutachten.
Langsam und bedächtig senkt sich die Sonne zur Ruhe
und beglückt uns mit ihrem Farbspiel.
Am Abend erreichen wir Novosibirsk, wo das Thermometer gerade mal frische -14°C anzeigt.
Auch den vierten Tag beginnt die Sonne mit einem spektakulären Aufgang,
läßt sich jedoch direkt hinter Tiumen vom Schneegestöber vertreiben,
das selbst Stunden später auch noch in Jekaterinburg tobt.
Unbemerkt verlassen wir den asiatischen Kontinent und kommen nach genau 365 Tagen wieder in Europa an. Das gespenstische Licht der Abenddämmerung kombiniert mit den dicken Schneeflocken über den unberührten Wäldern ruft uns auch sogleich Grimms Märchen Hänsel und Gretel ins Gedächtnis. In diesen Weiten dürfte es nicht schwer fallen sich auch am helllichten Tag zu verlaufen.
Selten kommen Häuser in Sicht, doch die tapferen Russen, die in der Einsamkeit den Minusgraden trotzen, lassen sich noch seltener draußen sehen. Ganz im Gegensatz zur Mongolei erblicken wir weder Nutztiere noch Wild. Lebhafter ist es bei unserem letzten längeren Halt vor Moskau in Perm, welches zwischen seinen Hochhäusern mit künstlerischen Lichinstallationen, einer Halfpipe für Skater beziehungsweise Snowboarder auch ein Leninmonument aufweist. Da es munter weiter schneit, wurde um es etwas gemütlicher zu machen, schon mal die weihnachtliche Straßenbeleuchtung angedreht. Die Stadt wird durch den größten europäischen Nebenfluss der Wolga, der Karma, geteilt und weist neben den üblichen kleinen Garagen oder Lagerräumen einiges an Industrie auf. Erstaunlich ist wieder einmal die Pünktlichkeit trotz dieser immensen Entfernung und der klirrenden Kälte. Als Bahnreisender in Deutschland wahrlich kaum vorstellbar.
Allerdings sind seit Jekaterinburg die Gleise etwas schief abgefahren, sodass der morgendliche Tee am fünften Morgen uns fast aus der Tasse hüpft.
An den langsam verblühenden Eisblumen am Fenster merken wir, dass es deutlich wärmer wird und wir uns der Hauptstadt nähern. Langsam wird es auch Zeit, denn Seife, kaltes Wasser und Waschlappen bringen wenig Abhilfe, doch die heiße Dusche rückt mit jeder Minute mehr in greifbare Nähe. Pünktlich auf die Minute rollen wir nach 122,5 Stunden Zugfahrt bei strahlendem Sonnenschein und den lieblichen Klängen chinesischer Musik in Moskau ein.
Mit den Chinesen, Mongolen, Russen und uns steigen gerademal zwei weitere ausländische Männer aus.